Schnuckenmoment

Zwischen Heide und Moor

Leben, Liebe… Wirklichkeit?

Was ist, wenn eine Internetromanze für den Akteur zur reinen Wahrheit wird und er sein Leben davon beherrschen lässt, die Realität nicht mehr da ist

Langsam öffnet Carina die Augen. Die Sonne scheint. Trotz April? Gerade wegen April? Sie lächelt und dreht sich um. Wird von ihrer großen Freundin hechelnd begrüßt. Lacht leise über ihre Eigenart sich hinzuwerfen, sich gegen einen zu schmeißen. Krault sie, schmust mit ihr, auch wenn sie eigentlich nicht ins Bett sollte. Heute war eine Ausnahme. Dann schließt sie noch mal die Augen. Es war eine lange Nacht. Nicht die erste. Die zweite Nacht. Mit ihm. Beide vor ihren Rechnern, getrennt von hunderten Kilometern. Für Beide eine ganze Welt, die zwischen ihnen liegt und dazu noch…

Sie öffnet die Augen wieder, denkt an ihren Freund, doch irgendwie wird er wieder von dem Gedanken an ihn, den Anderen, verdrängt. Seufzend setzt sie sich auf, ihre Wohnpartnerin legt ihren blonden Kopf auf ihren Schoß. Sanft krault sie sie, denkt nach. Verdammt, sie hatte die letzten Tage und Nächte zu viel nachgedacht. Ihr brummt der Schädel, leicht nur, aber immer hin. Die Hand wandert automatisch zum Nachtisch, Schmerztabletten. Gerade noch so ohne Rezept zu bekommen. Doch bevor sie diese ergreift, zieht sie ihre Hand auch schon wieder zurück. Ihre Wohnpartnerin schaut sie an, bellt dumpf. Sie bellt im gleichen Tonfall zurück. Wieder brummt der Kopf. Langsam massiert sie sich die Schläfe. Erst die eine, dann die andere, während eine Hand immer noch ihre Freundin krault. Dann springt das Tier vom Bett und macht sich hörbar auf den Weg in die Küche. Nachdenklich blickt die junge Frau ihr nach. Den Drang sofort an Rechner zu stürmen, zu sehen ob er auch schon wach ist, unterdrückt sie gerade noch so.

Gezwungen langsam erhebt sie sich und schlendert ihrer Wohnpartnerin nach, vorbei am Wohnzimmer, kurz blickt sie zum PC. Er ist an, wie immer. Nur ihr Messenger noch nicht. Nur ein Klick und Carina wäre wieder erreichbar, könnte sehen, ob er …. nein… verdammt…

Wieder denkt sie an ihren Freund. Langsam beginnt sie die Hündin zu füttern. Sie steht ganz dicht bei ihr, schaut kurz auf, aus Angst, ihr würde auch nur ein Bissen abhanden kommen. Amüsiert lächelt sie sie an: “Na, Vielfraß Artimis von Total-Verfressen?” Ihre Stimme ist leise, neckend. Eigentlich heißt sie ja nur Artimis, der Vorbesitzer gab ihr den Namen. Ein Fan von den Musketieren. Doch für Carina ist Artimis eine Freundin und Wohnpartnerin, die ihr Leben mit ihr teilt. Sie stürzt sich zur Antwort sofort auf das Fressen. Carina schüttelt lächelnd den Kopf: “Du hast es gut, meine Liebe. Du bist enthündet und hast somit keine Probs mit den Männern. Aber ich….” Sie streckt sich langsam und seufzt leise beim Blick auf die Uhr. Sie hatte nicht wirklich viel geschlafen. Um 7 war sie ins Bett. Vielleicht auch halb acht. Nun ist es kurz vor 12.

Sie will ins Bad, sich frisch machen, endlich was gegen die Kopfschmerzen tun, vielleicht auch kurz in die Wanne. Doch ohne es zu wollen, biegt sie vorher ab. Geht ins Wohnzimmer, bleibt vor dem Rechner stehen. Ihre Hand geht zum Bildschirm, dabei fällt ihr Blick neben den Schreibtisch. Etwas schmerzlich zieht sie die Hand zurück. 2 Flaschen Rotwein, trocken, so daß der Wein im Mund staubt und einem den Speichel entzieht, sind Zeuge der letzten Nacht. Langsam wendet sie sich ab, unruhig. Was war geschehen. Sie hatten mit einander geschrieben, vom Leben, der Welt, von den Problemen in ihrer Beziehung, die eigentlich gar nicht da waren.

Durch ihren Kopf geht eine Textzeile: “Wir wollten uns bloß den Abend vertreiben….” Sie hatten doch nur geredet…. über alles, über wirklich alles. So hatte Carina schon lange nicht mehr geredet. Doch dann. Sie fährt sich mit einer Hand über die Augen. Es war nur virtuell, redet sie sich selbst ein, will das Chaos in ihr nicht wahr haben. Warum auch. Alles was im Netz passiert ist und darf nicht echt sein. Sie weiß doch, was geschieht, wenn man sich dort aufgibt, sich dort verliert.

Nun endlich findet sie die Kraft das Bad aufzusuchen. Schaut dort in Spiegel. Grüne Augen, die manchmal einen Blaustich haben, blicken zurück unter blondierten Strähnen in einem Gewirr aus brünetten Locken, die bis zum Kinn reichen. Sie dreht leicht den Kopf, knurrt kurz. Von der Tür kommt Antwort. Grinsend wirft sie einen Blick dort hin und schaut in ein paar braune treue Augen, in einem doch feinen Hundegesicht. Carina lacht leise und hockt sich vor ihre Wohnpartnerin. Wuschelt ihr durchs dichte Felll. Hast ja recht, heißt das.

Dann zieht sie sich schnell um, schnappt sich die Leine und verschwindet nach draussen. Artimis läuft vor, froh über den morgendlichen Gang. Carina läßt sich vom Wind den Kopf frei pusten. Doch ihre Gedanken gehen immer wieder zurück, immer wieder…

Als sie wieder zu Hause sind, umschleicht sie erneut den PC. Schließlich setzt sie sich entschlossen hin und macht den Monitor an. Aktiviert den Messenger. Sie hatten sich heute morgen nicht Tschüs gesagt. Er war plötzlich weg. Und sie war nun mal die Ungeduld in Person. Ist einfach gegangen. Ein Fenster ploppt auf. Eine Offline-Message von ihm. Er entschuldigt sich, der Rechner wäre abgestürzt. Carina beißt sich verlegen auf die Unterlippe. Verdammt, sie hätte warten sollen. Dann schaut sie in die Liste. Sieht ihren Freund on. Will ihn anklicken, lesen, dass er bald nach Hause kommt, zurück zu ihr. Doch zögert sie, zieht die Maus zurück. Blickt von seinem Nick zu dem von ihm. Runzelt die Stirn. Verwirrung. Warum eigentlich? Verdammt, sie ist doch mit ihrem Freund glücklich. Oder nicht? Doch, ja, sie ist es. Aber…

Carina beschließt, dass sie zu viel nachdenkt. Sie hatte die letzten Tage und Nächte über ihre Beziehung nachgedacht. Hat es Sinn? Liebt sie ihn, so sehr, wie er sie liebt? Ist es wirklich Liebe? Sie stützt sich auf, leicht müde. Ein Chatfenster springt auf. Ein gemeinsamer Bekannter. Bekannt mit ihr, mit ihrem Freund und mit ihm… den Anderen. Sie schreiben, auch wenn sie ausweicht, nicht direkt ist. Sie sei etwas anders als sonst, er fragt nach, sie wechselt schnell das Thema. Ihre Schwester ruft an. Ob sie zum Abendessen komme. Erwünschte Ablenkung. Ja. sie kommt. Plötzlich wird sie virtuell zu Boden geknuddelt. Und lacht vor dem Rechner auf. Er ist on. Carina wird bewußt, wie sehr sie ihn vermißt hatte und stellt erneut sich selbst in Frage, sich, dieses Verhältnis und warum er, der nur virtuell ist, so einen Platz in ihrem realen Leben einnimmt. Fröhlich knuddelt sie ihn zurück. Gibt ihm einen Kuß auf die Wange, natürlich virtuell. Sie reden über die Nacht. Über das was fast geschehen wäre. Sie ist glücklich, zufrieden. Plötzlich wird sie von ihrem Freund an geschrieben. Irritiert blickt sie auf das Fenster.

Er liebt sie und ist morgen wieder zu Hause, bei ihr. Er freue sich auf sie und hätte schon jetzt keine Lust mehr auf die Arbeit dort, wo er jetzt ist…. Carina schluckt trocken. Schaut zu dem anderen Fenster, wo sie gerade einen Kuß von ihm bekommt. Dann antwortet sie ihrem Freund:”Hab Dich auch lieb!” Sie kann diese drei Worte nicht nennen. Wagt es nicht, hat Angst davor zu Lügen. Ob sie heute abend telefonieren wollen. Sie schüttelt virtuell den Kopf. “Nein, muß gleich weg. Abendessen bei Steffi.” Er nickt virtuell dazu, wünscht ihr viel Spaß und geht off. Irgendwie erleichtert seufzt Carina auf, blickt zur Uhr. Bald muß sie sich auch von ihm trennen. Wieder geschieht es. Wieder gehen beide weiter als nur virtuelle Küsse. Sie glaubt förmlich seine Berührungen spüren, seufzt leise, genießt seine Art zu schreiben. Atmet etwas schneller, tiefer, erregter. Doch dann fällt erneut der Blick zur Uhr, sie muß gehen. Leider. Sie will sich nicht von ihm lösen, von dem, was dort gerade geschieht. Doch sie muß, schließlich ist es doch nur virtuell, wie sie sich selber einflüstert. Nicht real!

Verspricht um 21Uhr wieder on zu sein Traurig schaltet sie den Rechner aus, ebenso den Monitor. Dann fährt sie los zu ihrer Schwester, nachdenklich, in Gedanken versunken. Klar, sie freut sich drauf… aber….

Es ist ein schöner Abend, doch… es ist später als geplant. In ihr nagt es, sonst hält sie ihre Verabredungen doch immer ein. Warum macht sie sich so einen Kopf?! Es ist keine reale Verabredung. Reale Verabredungen hält man ein, aber im Internet? Das ist keine Wirklichkeit.

Sie hat schon erlebt, wie es ist, wenn man den Bezug zur Wirklichkeit durch das Internet verliert. Es war schrecklich.

Langsam fährt Carina nach Hause. Je nähr sie ihrem Ziel kommt, um so stärker denkt sie an ihn. Freut sich auf den Chat mit ihm. Ihr Herz schlägt schneller. Fast rennt sie mit Artimis die Stufen hoch zu der Wohnung. Doch dann stockt sie. Verwirrt, fast ängstlich. Was geschieht hier gerade mit ihr? Sie ist doch… Nein, ist sie nicht. Sie ist bei ihm glücklich. Und ihr Freund? Sie weiß es nicht. Angst macht sich breit. Sie schaut zur Uhr. Vielleicht ist er schon off. Mit diesem Gedanken macht sie ihren Messenger an an. Ein Fenster ploppt auf.

Er ist es, er ist traurig, weil sie erst jetzt da ist. Sie weint plötzlich, weiß nicht warum, versucht es zu verdrängen. Er setzt sich in ihren persönlichen Raum, sie legt sich hin, den Kopf auf seinen Schoß. Ein paar Minuten vergessen. Doch dann wird er ernst, schaut sie an: “Gehen wir nicht zu weit?” Die Frage, vor der Carina sich fürchtete. Die ganze Zeit schon. Seit dem Aufstehen, seit der vergangenen Nacht. Sie richtet sich auf, will weg von ihm. Er hält sie fest, redet mit ihr, versucht sie mit Worten zu bewegen bei ihm zu bleiben. Sie ist verwirrt, hat Angst, will die Flucht antreten. Doch muß sie sich entscheiden. Er oder ihre Freund. Eine Träne findet ihren Weg, als sie sich vom PC weg dreht. Er muß gehen… Er verschwindet, sie bricht zusammen. Unter Tränen, kann nicht mehr. Erkennt ihre Gefühle für ihn. Es schmerzt. Ihr Freund kommt on, schreibt sie an, sie antwortet mechanisch, verabschiedet sich aber bald, erträgt seine Nähe nicht. Geht off.

Am nächsten Morgen geht sie noch mal on, sieht, daß sie ihn nur knapp verpaßt hatte. Oder er sie? Er wollte ihr noch was sagen. Aber Carina war schon fort gewesen. Sie hat Angst. Große Angst. Sie geht erneut raus, nachdenklich. Sie läuft zusammen mit Artimis eine Runde. Sie versucht sich einzureden, dass sie nicht abhängig ist, dass sie in der Wirklichkeit lebt, dass auch er wirklich ist und nicht nur eine virtuelle Erscheinung.

Sie sieht den LKW nicht, hört nicht das Hupen, das Bellen ihrer Freundin.

Der Fahrer ist völlig fertig mit den Nerven, als die Polizei ihn später befragt. Die junge Frau war ihm einfach so vor den Laster gelaufen, ebenso der Hund. Er kann es sich selbst nicht erklären. Schon gar nicht ihren letzten Satz

“Davon habe ich doch nichts geschrieben.”

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